Das fast ausgefallene Weihnachtsfest


Es mag vielen Kindern heute befremdlich erscheinen, diese wahre Weihnachtsgeschichte zu lesen und vielleicht sogar noch zu glauben. Ich kann aber allen Kindern und auch den Erwachsenen versichern, dass sie sich genau so zugetragen hat und heute zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit gehört.

Es war im Winter des Jahres 1956, ganz früh am Morgen des Hl.Abends. Mein Bruder, bereits stolze 7 Jahre, 2 Monate und 6 Tage alt und ich, der auf den Tag genau 18 Monate jünger war und nebenbei noch immer bin, konnten diesen Tag, besonders den späten Nachmittag kaum erwarten. Ein solcher Tag vergeht für Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahren im Schneckentempo. Ich kannte bereits die Uhr, und irgendwie hatte ich grundsätzlich am heiligen Abend den Eindruck, als würde der kleine Zeiger sich keinen einzigen Millimeter weiter bewegen, denn so oft ich auch auf die Küchenuhr schaute, war es immer kurz vor 9 Uhr.

Eigentlich mochte ich dieses Ungetüm von Uhr, das in einem blassen Gelb aus Porzellan mit weißem Ziffernblatt über der Küchentür hing. Doch bis 16 Uhr..... und das Christkind kam bei uns immer um 16 Uhr, mussten also noch 7 lange Stunden vergehen.... Eine Ewigkeit. Mein Bruder las in dem Buch „Der Kleine Lord“, denn er war ja schon in der ersten Klasse und hatte das Lesen bereits vor der Schule erlernt. Ich konnte noch nicht lesen, was auch nicht dazu beitrug, die Stunden des Tages schneller verstreichen zu lassen.

 

Dieser 24. Dezember des Jahres 1956, dem ersten Weihnachtsfest, an das ich mich zurück erinnern kann, lief nicht so ab, wie in den Jahren danach und wohl auch nicht wie in den Jahren zuvor. Es war also kurz vor 9 Uhr und der Frühstückstisch war gedeckt. Sonntags wurden alle Mahlzeiten grundsätzlich gemeinsam eingenommen, das war auch zu Weihnachten so. Zunächst saß also die Familie zusammen, um das Frühstück einzunehmen.


Das geschah aus zweierlei Gründen in der Küche. Erstens hatten wir kein Esszimmer und zweitens war das Wohnzimmer von früh morgens bis zum Nachmittag vom Christkind in Beschlag genommen. Schließlich mussten die Geschenke verpackt und fein säuberlich unter den Weihnachtsbaum gelegt werden.

Zur Feier des Tages wurde am heiligen Abend mal keine Marmelade auf das Brot geschmiert, sondern eine der Schokoladensträusseltüten aufgemacht, die irgendwer im Sommer aus Holland mitgebracht hatte. Der Tag begann also schon mit Süßigkeiten. An dieses Schokoladenbrot denke ich noch heute mit Freuden zurück, denn es war so ziemlich das köstlichste, was man sich vorstellen kann, zumindest wenn man das Jahr 1956 schrieb und Kind einer zwar nicht ärmlichen, aber eben doch auch nicht reichen Familie aufwuchs. Dieses Frühstück war einfach nur köstlich..... die Fenster beschlugen ein wenig, denn draußen war es bitterkalt und und in der guten Stube wohlig warm. Der Schnee, der schon seit Tagen unaufhörlich vom Himmel rieselte, machte dieses Weihnachtsfest noch schöner.

 

Beiläufig sagte meine Mutter zu meinem Vater, dass er nach dem Frühstück den Baum aus dem Keller holen solle. Daß das Christkind den Baum nicht auch noch mitbringen würde, das war uns als Kindern schnell klar, denn gleich um die Ecke wurden seit Wochen die Tannen und Fichten verkauft, die von den Eltern dann in einen Christbaumständer eingestielt wurden..... Nur das Schmücken, das Einpacken der Geschenke und dass Anzünden der Kerzen auf dem Weihnachtsbaum war eindeutig Sache des Christkindes.

Nach dem Frühstück ging mein Vater also in den Keller, um den Baum zu holen, der wohl seit dem Kauf dort neben der Kartoffelkiste und den Kohlen stehen würde. Nach einigen Minuten kam mein Vater wieder in die Küche und fragte, wo meine Mutter den Baum denn hingestellt habe, er könne ihn nicht finden.

Wieso ich?... fragte sie.... Du hast ihn doch gekauft....

Ich?... nein wann sollte ich das gemacht haben? Fragte mein Vater.....

Du spinnst, meinte meine Mutter. Ich habe Dir doch gesagt, dass du den Baum kaufen solltest... wie hätte ich den denn allein tragen können?.
Aber ich habe keinen Baum gekauft..... meinte Vater..... Ich auch nicht.... sagte meine Mutter.

Und jetzt?..... Die Blicke unserer Eltern richteten sich auf das entsetzte Gesicht meines Bruders, und auch mir müssen wohl die Tränen ins Gesicht geschossen sein.

 

Du musst nochmal los... egal wie und wenn Du einen Baum selbst fällen musst. Einen Weihnachtsbaum fällen.... mitten in der Großstadt Dortmund...... das würde schwierig werden. Wir können kein Weihnachten feiern ohne Weihnachtsbaum! meinte Mutter.... und damit hatte sie vollkommen Recht..

Das war zudem die Initialzündung für meine Tränendrüsen.... klar, es ist unmöglich Weihnachten zu feiern, wenn kein Baum da ist.... und dass den nicht das Christkind mitbringen kann, das war mir klar... hatte es doch genug an den Geschenken zu tragen.... (Ich war immer schon ein Optimist),,, also fing ich an zu weinen, was das Zeug hielt.

Vater zog seinen Fischgrätmantel an, band sich den Schal um, denn draußen schneite es wie verrückt und es mussten wohl so um die 8 bis 10 Grad minus kalt gewesen sein. Den obligatorischen Hut auf.... und weg war er.

 

Kaum jemand kann sich vorstellen, was in einem Kinderhirn gesponnen wird, wenn der Supergau eintritt.... Weihnachten fällt vielleicht aus..... das ganze Jahr.... also gut.... mindestens 6 Wochen freut man sich als Kind auf Geschenke, die Mitte der 50er Jahre ohnehin recht „dürftig“ ausfielen, aber dennoch... Geschenk ist Geschenk.... und wir, mein Bruder und ich, hatten ja schon durch Zufall entdeckt, dass das Christkind uns eine elektrische Eisenbahn bringen würde. Die stand nämlich seit 14 Tagen unter unserer Wohnzimmercouch..... bis gestern.... da war sie weg.... ganz bestimmt hatte das Christkind die Eisenbahn nur „zwischengelagert“. Klar, so war es!!!

Heute war sie weg.... aber wenn wir keinen Baum haben würden, dann wäre auch keine Eisenbahn an Weihnachten zu erwarten, denn Geschenke lagen grundsätzlich unter dem Weihnachtsbaum.... würde der nun fehlen.... na, dann gäbe es keine Geschenke.... logische Gedankengänge eines 5 jährigen Jungen.

Und wieder schossen mir die Tränen in die Augen.

 

Nun beruhige Dich, versuchte Mutter mir die Angst zu nehmen..... Papa wird schon einen Baum besorgen..... Ob sie das wirklich erst gemeint hatte?.... Weihnachtsbäume waren um die Ecke.... aber der Verkauf wurde schon vor 2 Tagen eingestellt.... es waren keine Bäume mehr da.... Und eine Nachbestellung würde wohl erst zu Ostern eintreffen. Also drückten wir Kinder uns die Nasen an der Küchenscheibe platt, denn das Vertrauen in Vater war doch groß..... er würde das schon machen.

Was aber, wenn nicht?.... dieses Szenario ging mir durch den Kopf und immer wieder kamen mir Zweifel und Tränen, die sich mit Hoffnung und Vorfreude ablösten.

 

Um 14 Uhr war Vater noch immer nicht zurück...... so langsam schwand alle Hoffnung, zumal der Schnee nicht nachließ, sondern stärker und stärker wurde mit einem zudem eisigen Ostwind. Telefon hatten wir keines, anrufen war also nicht möglich für Vater.... und von Handys hatte man zu der Zeit noch nicht einmal den Schimmer einer Ahnung, dass so etwas irgendwann vielleicht mal möglich würde.

Um 15 Uhr fing es langsam an, dunkler zu werden und innerlich hatte ich mich mit dem Ausfallen des Weihnachtsfestes schon mal beschäftigt, was mir immerzu die Tränen in die Augen schießen ließ.

Auch Mutter wurde langsam hektisch und zweifelte an dem Erfolg der Mission Weihnachtsbaumbesorgung unseres Vaters.

16 Uhr.... es dämmerte bereits und die Hoffnung war gänzlich dahin, als sich einfach kein Vater und auch kein Baum und schon gar nicht beide zusammen zeigen wollten.

Gerade als ich dass Christkind darum bitten wollte, ein Wunder geschehen zu lassen..... vielleicht hatte ich es auch bereits gebeten.... so genau kann ich mich nicht an das Gedachte erinnern, sah mein Bruder einen Schneemann um die Ecke kommen.

 

Da ist er.... er ist da... er hat einen.... Mama, Papa kommt er hat einen Baum.... wir hüpften vor Freude von der Fensterbank und konnten es nicht fassen.... genau um 16 Uhr, eigentlich die Zeit der Bescherung, kam der Baum um die Ecke. Vollgeschneit , durchnässt und zitternd am ganzen Körper hatte Vater wohl unter Aufbringung der letzten Kräfte einen Baum kaufen können.  Einen Baum?.... was war das für ein Baum?.... krumm und schief, mit abknickender Spitze..... heute würde man wohl sagen eine total verkrüppelte Krüppelkiefer..... aber für uns war es der schönste Baum unseres bis dahin so kurzen Lebens.... und ich kann mich nicht erinnern, jemals wieder so eine Freude empfunden zu haben über einen Christbaum, auch wenn er selbst in der Erinnerung nicht mehr gerade werden würde.


Die Hürde war genommen..... und das Christkind konnte bestellt werden, damit es den Baum schmückte...... Vater, der sonst immer beim Schmücken des Baumes dem Christkind zur Hand gehen musste, lag zunächst zum Auftauen in der Wanne, also wurden wir in der Küche eingeschlossen, damit Mutter diesmal helfen konnte.

Mit gut 2 stündiger Verspätung, es musste vorher noch das obligatorische Weihnachtsessen: Kartoffelsalat mit Würstchen, gegessen werden, dass wir so schnell hinunter würgten, wie wir es nur konnten..... dem Brechreiz nahe aber überglücklich nun endlich zur Bescherung schreiten zu können kam die nächste Hürde..... erst wird gespült und ihr trocknet ab. Können Eltern grausam sein..... also gut: nach dann 2 Stunden und 20 Minuten Verspätung klingelten die Glöckchen nun, die anzeigten, dass das Christkind alles aufgebaut hatte, die Kerzen brannten, der Baum drehte sich (was er übrigens noch heute tun könnte, würden nicht die elektrischen Birnen das Drehen verhindern).... und nun war nur noch zu klären, wer als erster die Eisenbahn in Beschlag nehmen würde. Mein Bruder oder ich..... Ich weiß nicht mehr, wie er es geschafft hatte, aber er durfte vor mir das weihnachtlich geschmückte Zimmer mit den brennenden Kerzen und dem Gabentisch betreten.

 

Beide hatten wir große Augen..... mein Bruder drehte sich zu mir um und schaute ungläubig in die Runde.... siehst Du sie?... flüsterte er mir zu..... Was?.. fragte ich Die Eisenbahn?.... sie ist nicht da.... steht bestimmt wieder unter dem Sofa, sagte ich und fiel auf die Knie um dort nach zuschauen.... aber nichts.... keine Eisenbahn, wohl aber die zwei Brettspiele, die ich seit Ostern vermisste standen auf der Sofalehne...... und eine Taschenlampe für jeden von uns... eine Riesentaschenlampe, die ich mir am Gürtel befestigte und mir bis zu den Knien zu reichen schien.

Weder mein Bruder noch ich wagten den Mund aufzumachen, denn die Enttäuschung über die fehlende Eisenbahn war doch größer als die Freude über die zugegebenermaßen riesigen Taschenlampen, die wohl kaum jemand unserer Freunde hatte.

Dann war da noch ein batteriebetriebenes Fernlenkauto. Das Blechauto hing an einer langen metallenen Schnur, das, wenn man an dem Lenker drehte, der auf dem Kasten mit der Batterie angebracht war nach links, rechts, vor und zurück fahren konnte. Der Knaller damals. Fast hätte ich darüber nun doch die Eisenbahn vergessen, wenn nicht plötzlich die Türklingel Sturm geschellt hätte.


Wer konnte das sein?.... am Hl. Abend erwarteten wir keinen Besuch?.

Ich rannte zur Tür, öffnete sie und da stand unser Nachbarsjunge, Gerd, mit strahlenden Augen.... Bei Gerd wurde auch um 16 Uhr Bescherung gemacht..... sie waren also schon ein Stück weiter als wir und seine Augen leuchteten.... kommt mal schnell rüber.... sagte er.... ich habe was Tolles vom Christkind bekommen.

 

Wir schauten unsere Eltern an und sie nickten beide und schwuppdiwupp waren wir in der Nachbarwohnung...... und was wir da sahen, verschlug uns die Sprache...... dort stand eine tolle Märklin Eisenbahn, in dunklem Zimmer, beleuchtet, sie fuhr eine Runde nach der anderen und hatte verdammt viel Ähnlichkeit mit der Eisenbahn, die so lange unter unserem Sofa stand.

 

Gerd schaute verdutzt auf mein elektrisches Fernlenkauto, etwas irritiert und sagte das kenne ich..... das hatte das Christkind zusammen mit zwei Taschenlampen unter unserem Sofa abgestellt.... ich dachte schon die ganze Zeit, was soll ich mit zwei Taschenlampen.

 

So wurde aus einem fast ausgefallenem Weihnachtsfest doch noch ein fröhlicher Tag und ein Abend, der sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt hat....... ich weiß nur nicht mehr, ob es die Freude über das Auto und die Taschenlampe war oder ob die nicht erhaltene Märklin-Eisenbahn Grund für dieses unvergessliche Weihnachtsfest gewesen ist.

 

Taschenlampen kann man mit ins Bett nehmen, Eisenbahnen nicht!!.... Ich glaube, dieser Gedanke hat mich ebenso getröstet wie auch die Tatsache, dass man sowohl weißes, wie auch grünes und rotes Licht mit der Lampe scheinen lassen konnte....... welche Eisenbahn kann das schon??!!